Job weg, Frau weg, Freunde weg, Wahlzettel weg!

Prolog

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Mittlerweile ist fast Herbst und der Wasserstand für diese Jahreszeit normal. Heute könnte es wieder regnen. So jedenfalls versprechen es die Färbung des Himmels und der aufkommende Wind. Letzterer stört kurz vor Sonnenuntergang die bisherige unheimliche Stille. Eine unwirtliche Stimmung streift die Rabwiesen. Diese Atmosphäre hat das Fass zum Überlaufen, ihn in Bewegung gebracht. Heinrich Kamulke weiß nicht mehr, was er tut, wozu er fähig ist. Er ist unterwegs …

Unter der gerade wiedererrichteten unteren Rabtalbrücke stehen ein paar skurrile Typen im feuchten Gras um einen Grill herum. Sie scheinen einfach dazu zu gehören, wie der auf der anderen Flussseite etwas nördlicher gelegene gotische Dom. Auf dem Rost liegen Würste. Richtiges Fleisch ist für die Anwesenden zu kostspielig.

"Reich mir ne Pilsette rüber!", ruft Theo, der älteste des Trios im Grothdialekt.

Pilsette

Etwas schaukelnd greift Paule in den Bierkasten - so viel Stil muss sein - und wirft Theo die Flasche zu, die er sicher fängt und sofort öffnet. Paule ist ehemaliger Beamter der Oberfinanzdirektion. Karriere war für einen Hiesigen wie ihn aus vergangenheitstechnischen Gründen ohne Läuterung und Anbiederung einfach unmöglich. Heute ist er Aussteiger und Aussätziger zugleich, ein Anarchist. Trotz seiner berufsbedingten eingeschränkten Sichtweise ist er den beiden anderen, was die Intelligenz angeht, haushoch überlegen. Die Kunst des Überlebens - der Quotient aus Arbeit und Kontostand möge gegen Null streben - betreiben Konrad und Theo auf viel höherem Niveau, in einer anderen Liga sozusagen. Konrad, ehemaliger Spieler des FCB, verfiel kurz nach der Wende dem Alkohol, als seine Mannschaft in die Bedeutungslosigkeit absackte. Alle beneiden Theo. Für den Minimalisten besteht die Freude am Leben aus selbigem. Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, dass das Kind Theo auf der Flucht aus Schlesien nur knapp dem Tode entging. Danach war sogar das zerstörte B. eine lebenswerte Heimat. Daran änderte sich bis heute überhaupt nichts.

Der Kasten ist inzwischen halb leer, und da ist sie wieder, Konrads Redseligkeit, die immer mit "Als ich beim Club spielte …" beginnt und heute gerade mal durch "… gab es noch Europacupspiele im Grothlandstadion" ergänzt werden kann, denn Theo und Paule konzentrieren sich schon auf eine andere Person.

"Ich will nicht mehr …", schreit ein scheinbar Wahnsinniger von der Brücke herunter, bevor man ihn wegen des Windes nicht mehr akustisch wahrnehmen kann.

"Der bringt sich noch um", meint Theo. Paule kontert: "Ach was, der will sich nur wichtig machen, ein Verrückter."

"Mach dich ab nach Hause!", aber Konrad ändert sofort seine Meinung in der Hoffnung auf einen potenziellen Gesprächspartner: "He du, komm runter! Kriegst auch n Bier!"

Mit unbeschreiblicher Freude - Heinrich sieht soeben Menschen - rennt er kreisend, tanzend und hüpfend zu den drei Jungs an den warmen Grill herunter.

Konrads Art übertrumpfend beginnt Heinrich ununterbrochen zu reden: "Welch ein Glück, ihr habt überlebt … Die Toten … Die Ruinen … Wie schrecklich …"

Heinrich redet von einer dritten Zerstörung der Stadt, der bislang schlimmsten, dass der Dom auch diesmal stehen geblieben ist und er Schuld sei am ganzen Dilemma. Völlig verwirrt lauschen sie, Konrad und Paule das Lachen verkneifend, Theo äußerst ernst, da er sich ins Jahr 1945 zurückversetzt fühlt und sich genau vorstellt, was der seltsam anmutende Mann im Moment durchmacht.

"Na los, redet mit mir! Wie seid ihr dem Unglück entgangen?"

Der sonst so schlagfertige Konrad versucht ihn davon zu überzeugen, dass sie hier unter der Brücke nichts von alledem mitbekommen haben.

Heinrich wird wütend: "Ihr Idioten. Wie soll man nichts merken, wenn die Brücke fast vollständig zerstört ist. Ihr wollt euch wohl lustig über mich machen."

Mit dem Vorschlag, erst mal was zu trinken, ist Heinrich einverstanden. Er wird nach einer Flasche Braugold ruhig. Bis zur Leere des Kastens hat man nicht mal die Namen ausgetauscht. Heinrich verlangt mehr. Paule redet ihm ein, dass nicht weit von hier eine Restauration unbeschadet blieb und dort sicherlich einiges zu holen sei. Nach nur ein paar Minuten kehrt Heinrich mit acht Flaschen Schnaps als Beute und einem Schild mit der Aufschrift ‚Ruhetag' um den Hals als Trophäe zurück.

Jetzt wird weiter getrunken. Aber der Alkohol befördert Heinrich in ein mentales Loch. Er fängt an zu weinen. Theo will helfen, die Last von ihm nehmen, ihn trösten, und redet auf Heinrich ein.

Nach etlichen gefühlsschwulstigen Worten kommt Theo auf den Punkt von dem aus Heinrich seine Wahnvorstellungen von der Seele labern kann: "Wie kam es zu dieser Katastrophe und überhaupt, wieso hat das was mit dir zu tun?"

"Alles fing dieses Jahr an. Der Frühling wollte den Winter nicht so recht ablösen …"

Nach Oben - Kapitel 6

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