Job weg, Frau weg, Freunde weg, Wahlzettel weg!

Kapitel 6

pdf-Dokument zum offline Lesen herunterladen

Es vergingen ein paar unspektakuläre Wochen. Aufgrund einiger neuer Aufträge und eines überdurchschnittlichen Arbeitseifers meinerseits lösten sich die existenziellen Probleme zunächst in Luft auf. Die Miete wurde so pünktlich wie lange nicht überwiesen.

Ich schaue aus dem Fenster. Die riesigen Plakate erinnern mich daran, dass Wahl ist an diesem nicht überdurchschnittlichen Sonntag. Überdimensional waren diese Schilder schon immer, während der einmaligen Jahre nur einfarbig. Heute sind sie so schön bunt. Für dieses Ereignis, um mir die Teilnahme wenigstens offen zu halten an der heutigen Kommunalwahl, genaugenommen Oberbürgermeisterwahl, verlegte ich meinen Hauptwohnsitz nach zehnjährigem inoffiziellen Aufenthalt in die Landeshauptstadt. Die Anmeldung, mit entsprechendem langwierigem Aufenthalt im Amt, geschah vor zwei Monaten. Mist, wo ist eigentlich meine Wahlberechtigungskarte?

Habe ich eine bekommen? Ich kann mich nicht erinnern. Falls doch, ist sie von mir nur verlegt worden? Hat man sie mir sogar geklaut, wohlmöglich aus dem Briefkasten? Nicht auszudenken, was man damit alles anstellen kann, wenn die Karte in missbräuchliche Hände fällt. Stellt Euch vor, jemand geht mit meiner Identität verkleidet zur Wahl und macht das Kreuz bei den Tabuisierten oder viel schlimmer bei den Undemokratischen. Schon bin ich registriert; in einer Datenbank des Systems; Karriere ausgeschlossen. Ihr müsst wissen, dass Wahlen bei uns nicht so geheim sind, wie allgemein angenommen. Die kriegen auf jeden Fall raus, was du in der Box anstellst.

In der DDR war dies für die Offiziellen sehr einfach, da das Betreten der Wahlkabine automatisch von oppositioneller Energie zeugte. Heute muss es äußerst schwierig sein, technologisch gesehen, dem Wähler sein Wahlverhalten zuzuordnen.

Im Alter von 18 Jahren hatte ich das Vergnügen, an der letzten Kommunalwahl und gleichzeitig letzten Wahl der DDR teilzunehmen. Die Wahlkabine mied ich im weiten Bogen. Die Delegierung an die Hochschule durch meinen Betrieb stand auf dem Spiel. Hinter der Urne stand eine Mitarbeiterin der Kaderabteilung. Eine solche Delegierung war für den Erhalt eines gewünschten Studienplatzes am Lieblingsort von außerordentlicher Bedeutung. Als Erstwähler bekam ich auch noch einen Strauß Blumen überreicht, von besagter Person kurz nach Einwurf des Stimmzettels.

Auf dem Heimweg, es war mir peinlich mit meinen Eltern unterwegs zu sein, hätte ich die Blumen am liebsten atomisiert, denn sie signalisierten lautstark: "Hier ist Heinrich Kamulke. Ich bin mit den Kandidaten der Nationalen Front einverstanden, bekennender Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und außerdem eine hundertprozentig überzeugte rote Sau."

Für mich sprach nur, dass es relativ unwahrscheinlich war, gerade in diesem Moment einem der 0,1 Prozent Nichtwähler und Wahlkabinenbetreter zu begegnen. Bis heute beschäftigt mich folgende Frage. Hätte ich bei Betreten der Box den selben Blumenstrauß bekommen?

Oder hat man mir nichts zugeschickt? Ich für meinen Teil glaube fest an diese letzte Möglichkeit. Da ich mich in den letzten Jahren zu einem klassischen Wechselwähler entwickelt habe - obwohl ich natürlich nur die demokratischen Parteien gewählt habe - bin ich zu einem Unsicherheitsfaktor für das Establishment geworden.

Der Domplatz in B. an einem nicht überdurchschnittlichen Sonntag

Zwar hatte ich mir oft geschworen, nicht hinzugehen zu diesen Veranstaltungen auf Kommunal-, Landes- sowie Bundesebene, es dann aber jedes Mal revidiert. Heute klappt es nicht, da sich das System gegen mich verschworen hat. Verändern kann man sowieso nichts und die Parteilosen schaffen es erst recht nicht. Scheiß (elender!) Parteienstaat!

Bis zur Schließung der Wahllokale sollte ich meine Wohnung nicht mehr verlassen haben. Ich verfalle in eine typische Sonntagsdepression, wie ich sie noch von früher kenne, als ich sonntagabends in einen Zug steigen musste. Wie immer in diesem Zustand schnappe ich mir mein Velo und radele zum Dom, um in ihm neue Kraft und Mut zu tanken.

Auf dem Weg dorthin kann ich Asche nicht ausweichen. Er hat mich zu früh erspäht. Asche ist sehr komisch unterwegs auf seinem Fahrrad, der Sattel fehlt, auf dem Gepäckträger sitzend. Zur Polsterung benutzt er die polyesterbezogene Sitzauflage eines Plüschsofas, wahrscheinlich mit Schaumgummikern, der bereits zu leben beginnt.

"Hey Asche, die haben dir wohl den Sattel geklaut?", frage ich.

"Nee. Ist aber cool, oder? Will nur mal sehen wie die Leute reagieren und ob es Idioten gibt, die morgen auch so rumdüsen. Schön, dass ich dich treffe. Wollte gerade zu dir, hab aber wenig Zeit, möchte dir meine Gedichte überlassen. Ich habe gerade eine erste künstlerische Phase beendet, ich nenne sie die postnatale Phase, und ab jetzt soll mich nichts mehr daran erinnern. Ich dachte mir, du liest sie dir wenigstens mal durch. Ein Verlag meint, so etwas könne man nicht verkaufen, aber ich sei talentiert und wenn ich so und so schreibe, könne ich ein erfolgreicher Popautor werden. Hier nimm den Krempel! Ich muss weiter."

"Wohnt Ariane noch bei dir? Ich habe sie ewig nicht mehr gesehen."

Bereits in Fahrt befindlich antwortet Asche: "Hat sie noch nicht mit dir gesprochen? Komisch. Also, jetzt muss ich wirklich los. Wir sehen uns ja auf der Party!"

Nach Oben - Kapitel 16

Valid XHTML 1.0!
Valid CSS 2.0!
© 2004 Thomas Both & Steffen Sommer
Nachdruck und Weiterverbreitung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung.
Alle Rechte vorbehalten.
kamulke.de